Heterogenität

Das Prinzip der „kalkulierten Herausforderung“

Überforderung - Unterforderung - Kalkulierte Herausforderung Überforderung - Unterforderung - Kalkulierte Herausforderung

Stellt man einem Schüler eine Aufgabenstellung mit Anforderungen, die er mit seinen momentanen Fähigkeiten nicht zu bewältigen vermag, so scheitert er und wird sich der Aufgabe erst gar nicht widmen. Auf Dauer wird er Aufgabenstellungen verweigern.

Sind die Anforderungen der Aufgabenstellung indes zu niedrig, wird ihm die Bewältigung zwar gelingen, der Lernerfolg bleibt jedoch aus. Auf Dauer wird sich der Schüler unterfordert fühlen und die Aufgabenstellungen verweigern. Wenn Anforderungen den momentanen Fähigkeiten entsprechen und kalkuliert etwas über dem Bewältigungsniveau liegen, so dass die Aufgabenstellung mit Anstrengung erfolgreich bewältigt werden kann, dann findet der maximale Lernertrag statt.

Lerner profitieren am meisten von der Anleitung und Unterstützung durch kompetente Personen, wenn Aufgaben gestellt werden, die den Lerner kalkuliert auf „seine“ nächste Stufe führen.

Heterogenität ist kein neues Thema, sondern so alt wie es Unterricht gibt. „Binnendifferenzierung ist ein Wort für das schlechte Gewissen des Lehrers.“ titelt ein Artikel von B. Wischer zum Theorie-Praxis-Verhältnis im Umgang mit Heterogenität.

„Binnendifferenzierung ist ein Wort für das schlechte Gewissen des Lehrers."

Binnendifferenzierung ist eines der zahlreichen Konzepte, die die Theorie für den Umgang mit Heterogenität bereitstellt und die zu hohen normativen Erwartungen führen. Die Konzepte indes finden in der Praxis wenig Verbreitung und werden von ihr unzureichend eingelöst.

Im Umgang mit Heterogenität gibt es folgende Wege:

  1. Differenzierung (Individualisierung): Jeder Lerner erhält eine individuelle Aufgabe mit unterschiedlichen Anforderungen.
  2. Unterstützung (Scaffolding): Alle Lerner erhalten dieselben Aufgaben, aber mit unterschiedlichen Hilfen.
  3. Ko-Konstruktion: Alle Lerner erhalten dieselbe Aufgabenstellung und erstellen in heterogenen Lerngemeinschaften ko-konstruktiv Lernprodukte.

Alle Wege orientieren sich am Prinzip der „kalkulierten Herausforderung“: Lerner erhalten herausfordernde Aufgaben ggf. mit Hilfen, die sie kalkuliert erfolgreich (nicht zwingend fehlerfrei) bewältigen können.

Bei der Differenzierung werden an die Lehrperson hohe Anforderungen gestellt:

  • hoher Vorbereitungs- und Materialaufwand,
  • unterschiedliche Bearbeitungszeiten und Ergebnisse,
  • hohe Anforderungen an das Organisations- und Klassenmanagement.

Abgesehen davon, dass die Anforderungen an Lehrkräfte zur Überforderung auswachsen können, führt die Differenzierung im Extremfall zur vollständigen Individualisierung des Unterrichts. Dadurch werden Chancen des gemeinsamen Lernens verschenkt.

Differenzierung Differenzierung - Unterstütztung - kooperatives Arbeiten

Bei der Unterstützung erhalten alle Lerner dieselbe Aufgabenstellung, aber mit individuellen Hilfen Materialien, Methoden. Gemäß dem Prinzip der kalkulierten Herausforderung erhält jeder Schüler eine Aufgabenstellung, die ihn zum Schritt auf die nächste Stufe herausfordert. Die Unterstützungen sind metaphorisch gesprochen Trittsteine, die den Lernern helfen, die Stufe mit Anstrengung erfolgreich zu bewältigen. Die Hilfen - das sind oft Methoden-Werkzeuge - können je nach Bedarf fachlicher und/oder sprachlicher Art sein.

Der extrem individualisierte Unterricht verschenkt die Chancen des Diskurses gemeinsamen Unterricht. Lernen findet zwar im Kopf jedes einzelnen Menschen als Umstrukturierung und Vernetzung von Synapsen statt, aber die Stimulation und Wiederholung dazu wird veranlasst durch kognitive Aktivierung in adaptiven Lernumgebungen (herausfordernde Aufgabenstellungen, anregende Materialien, stimulierende Methoden) und durch eine Zusammenarbeit mit anderen, eben durch Ko-Konstruktion. Dieser Ansatz geht auf Wygotzky zurück (Wygotzky 1987).

„Unterricht muss von der Lernerperspektive aus konzipiert und gestaltet sein und die Lernprozesse müssen professionell gesteuert werden."

Bei der Ko-Konstruktion in heterogenen Lerngemeinschaften müssen die Lernenden ko-konstruktiv:

  • eigene Vorstellungen einbringen,
  • verschiedene Perspektiven kennenlernen,
  • neue Inhalte gemeinsam erarbeiten
  • zusammen mit anderen Aufgabenstellungen bearbeiten,
  • Lernprodukte erstellen und diskutieren.

Entscheidend für die Qualität eines ko-konstruktiven Unterrichts sind die Adaptivität der Instruktion und der Aufgabenstellung sowie die Lernerunterstützung. Unterricht muss von der Lernerperspektive aus konzipiert und gestaltet sein und die Lernprozesse müssen professionell gesteuert werden. Adaptivität bezeichnet die Anpassung des Unterrichts an die lernrelevanten Unterschiede zwischen den Lernern.

„Nicht nach unten homogenisieren, sondern nach oben heterogenisieren."

Eine Niveauabsenkung führt vermeintlich zu einer Homogenisierung, allerdings nach unten und wird den leistungsstarken Lernern nicht gerecht. Das Prinzip der kalkulierten Herausforderung fordert genau das Gegenteil, nämlich eine Heterogenisierung nach oben. Alle sollen auf hohem Niveau besser werden. Die Heterogenität vergrößert sich dadurch, ist jedoch nicht zu vermeiden.

Ko-Konstruktion Homogenisierung nach unten - Heterogenisierung nach oben

Beim passenden Umgang mit Heterogenitäten im Unterricht sollten folgende Punkte bedacht werden:

  • Guter Unterricht verringert die Heterogenität nicht, sondern vergrößert sie sogar.
  • Durch guten Unterricht werden alle besser und Studien belegen, dass starke Lerner noch schneller besser werden als schwache Lerner.
  • Es sollte Heterogenität auf hohem Niveau geschaffen werden.
  • Es sollte nicht nach unten homogenisiert, sondern nach oben heterogenisiert werden.
  • Die Förderung muss den Blick auf schwache und starke Lerner richten, damit alle zu ihrem Recht auf Lernen kommen.